Zurücktreten, bitte!
In den unzähligen Videokonferenzen seit März 2020 habe ich mich immer gerne so vorgestellt:
Guten Tag. Mein Name ist Herr Rossi, ich bin Spätgebärender in zweiter Ehe, habe drei Kinder und, ja, ich suche das Glück immer noch.
Und, ja, da ist viel Wahres dran. Ich heisse wirklich Rossi, ich habe wirklich drei Kinder und bin einmal geschieden. Aber der Teil mit dem Glück ist geschummelt. Ich sage das nur, um das Video zeigen zu können und jedem anderem Boomer im Call die Möglichkeit zu geben, "Ach ja, ich erinnere mich, hieß der Hund nicht Gaston 🤔?" in den Chat zu schreiben und eine Beziehung zu mir aufzubauen. Storytelling eben.
Denn eigentlich habe ich das Glück schon gefunden. Mein Leben ist ein weitestgehend glückliches. Ich bin meistens gesund, habe immer genug zu lesen und vor allem eine Familie, die mich (meistens) liebt und die ich liebe.
Spätgebären
Dass es so weit kommen würde, war nicht unbedingt vorhersehbar. Meine Kindheit war ein einziges Drama, die Ehe meiner Eltern über zwei Jahrzehnte hinweg ausweglos zerrüttet und ich wollte auch deshalb niemals eigene Kinder. Bis ich meine zweite Frau traf. Und da sitze ich nun und konfiguriere jeden Tag Bildschirmzeiten und Kaspersky Safe Kids, um die drei vor dem Schlimmsten dessen zu bewahren, was wir als selbsternannte digitale Elite jeden Tag an ins Internet kippen.
Die eigentlich wichtige Information, die sich in meiner launigen Vorstellung verbirgt, geht jedoch meistens im Gekicher unter: "Er hat spätgebärend gesagt". Ich breche gerne Gender-Klischees, rede auch von meinem "Mädchennamen" (Siedschlag) und wer sich traut, mich danach zu fragen, für den habe ich immer gerne ein paar queere Anekdoten aus meiner Jugend parat. Zum einen, weil ich gerne Konventionen breche und die Aufmerksamkeit genieße, die mir das bringt. Und zum anderen, weil ich Diversity für ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen halte, für das alternde weiße Männer mehr tun sollten, als die Klappe zu halten. (Wahrscheinlich mache ich es mit damit auch wieder falsch, aber was soll's, das ist ein Teil meines Beitrags.)
Spätgebärend heisst aber letztlich einfach nur, dass ich erst mit 38 Jahren Vater geworden bin. Das ist spät. Zumindest finde ich es spät. Und auch nicht ganz problemlos. Denn man ist sozusagen dann Vater, wenn man sich Schritt für Schritt aus der werberelevanten Zielgruppe schleicht. Ich bin jetzt 53 und der größte Teil meiner Alterskohorte hat die Kinder schon nicht mehr im Haus und beginnt, wieder alleine zu reisen und am Sonntagmorgen nach dem Frühstück Sex zu haben. Meine hingegen sind 15, 13 und 10 und sonntags ist Ausschlafen das für mich weitaus wichtigere körperliche Bedürfnis. Meine Frau und ich kämpfen uns durch die existierende, beginnende, zukünftige Pubertät unserer Kinder und ich nutze jeden Moment der Waffenruhe für ein Nickerchen. Die Freiheit zur Zweiheit mit meiner Frau werde ich erst dann wieder haben, wenn mich nur noch die öffentlich-rechtlichen bei der Programmplanung berücksichtigen.
Verlieren
Und doch finde ich es genau so richtig, wie es jetzt ist. Denn ich habe in meinem Alter zumindest eine wichtige Lektion gelernt, die unverzichtbar für den erziehungsberechtigten Teil meines Selbst ist: ich habe gelernt zu verlieren. Man verbringt nicht ein halbes Jahrhundert auf diesem Planeten, ohne zu verlieren. Ich habe eine Ehe verloren, diverse geschäftliche Engagements in Unternehmen, die es nicht mehr gibt oder die nun anderen gehören, die Spannkraft mancher Körperteile (nein, ich meine eher die Haut am Hals und am Bauch) und oft genug die Beherrschung. Kurz gesagt: ich bin mittlerweile ein Profi-Verlierer. Damit meine ich: ich habe gelernt loszulassen. Auch und vor allem bei meinen Kindern.
Loslassen
Denn was ist Elternschaft anderes als ein konstanter Prozess des Loslassens. Wir lassen eines Tages zum ersten Mal ihre Hand los. um sie laufen zu lehren. Wir lassen zum ersten Mal das Fahrrad los, um sie anschließend nach ihrem ersten Sturz zu trösten. Wir lösen unsere Hand aus ihrer am ersten, zweiten oder zwanzigsten KiTa-Tag. Und es hört niemals auf.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag an dem meine älteste Tochter, nachdem ich sie zu Beginn des fünften Schuljahres mehrere Male an die Bahn zur weiterführenden Schule gebracht hatte, mich eines Tages einfach stehen ließ und zu ihren Freundinnen am Bahnsteig trabte. Sie sagte kein Wort, war auf einmal einfach weg. mixte und mingelte mit den neuen Mädchen und mir war sofort klar, dass jedes Rufen oder Winken vergeblich und sogar falsch gewesen wäre. Jedes Beleidigtsein noch mehr. Ich hatte meinen Job erledigt - den Weg gezeigt, die Angst genommen, die Hürden aus dem Weg geräumt. Es war noch nicht Zeit ab-, aber sicher Zeit zurückzutreten.
Natürlich war das schwer. Ich war zur gleichen Zeit glücklich und deprimiert, stolz und beleidigt. Aber ich ließ es geschehen und verlor kein Wort darüber, weder des Vorwurfs noch des Ärgers. Ich war wie gesagt zu diesem Zeitpunkt - mit 48 Jahren - schon ein Profi-Verlierer, ein Platzmacher, ein Zurücktreter. Es fiel mir nicht leicht, aber leichter als es vielleicht mit 30 auf dem Höhepunkt meiner Unbesiegbarkeits-Hybris gewesen wäre, den Verlust zu akzeptieren. Ich wusste schon, wie es sich anfühlt, den Status und die Rolle zu wechseln. Der Schritt vom Beschützer zum Begleiter, vom Vorder- in den Hintergrund, war in jenem Moment ein schwerer, aber ganz sicher der richtige.
Lernen
Diese Blog existiert, weil ich ans Lernen glaube, an Fortschritt im Sinne von Reife, weil nicht nur Eigentum sondern weil auch Erfahrung verpflichtet. Lebenslanges Lernen wird häufig verstanden als der kontinuierliche, altersunabhängige Erwerb von Kompetenzen, um die eigene Beschäftigungsfähigkeit zu sichern. Ich glaube jedoch mit Hartmut Rosa, dass dieses Verständnis ein sehr eingeschränktes und zumindest teilweise schädliches ist. Letztlich führt es nur dazu, dass
"Menschen miteinander im stetigen und existenziellen Wettbewerb stehen (und sich) prädominant als Konkurrenten und damit in latenter Feindschaft (begegnen)" (Rosa, Hartmut. Unverfügbarkeit (Unruhe bewahren) (German Edition) (S.23). Residenz Verlag. Kindle-Version.)
Viel wichtiger als die Akkumulation von Wissen und Skills ist für mich das Überführen von (Lebens-)Erfahrung in eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung. Es gilt, durch Selbst- und Fremdbeobachtung eine gewisse Reife anzustreben und andere - soweit es einem gegeben ist - an den eigenen Erkenntnissen teilhaben zu lassen und dann im Dialog mit ihnen neue Standpunkte und letztendlich auch Realitäten zu schaffen.
Wenn ich also für mich feststelle, dass das Leben ein Prozess des Loslassens ist, liegt es nahe, diese Erfahrung auf andere Lebensbereiche als z.B. der Erziehung zu übertragen und sie mit dem Verhalten anderer Menschen, insbesondere dem meiner Peer Group, all der alternden weißen Männer da draußen, zu vergleichen und mich zu fragen: Wie steht es bei ihnen ums Loslassen, Nachgeben und Einlenken? Sind Männer meines Alters bereit, sich neuen Realitäten zu beugen oder ihre Entwicklung zumindest konstruktiv zu begleiten?
Und da muss ich leider feststellen, dass entweder ich ein notorische "Loser" bin, der die falschen Schlüsse aus seiner endemischen Erfolglosigkeit zieht (wenn ihr das glaubt lebt einfach nicht weiter - oder dass es (meine These) vielen meiner Geschlechts- und Altersgenossen an Reife mangelt und sie sich völlig und ebenso notorisch überschätzen. Als Kronzeugnis für diese Beobachtung hier ein an sich unspektakulärer Tweet des prototypischen Alter-Weißer-Mann-Influencers Roland Tichy.
Ich lasse an dieser Stelle die inhaltliche Diskussion um das Thema mal außen vor. Es gibt für meinen Geschmack wenige gute Argumente für "kein Tempolimit". Aber natürlich darf man einen anderen Standpunkt haben. Die Frage ist nur, mit welchem Anspruch man diesen vorträgt. Bin ich auf der Suche nach Dialog, oder besser noch: bin ich prinzipiell darauf vorbereitet, unrecht zu haben - oder will ich auf jeden Fall gewinnen? Die Wortwahl hier ist ebenso typisch wie verräterisch: "Bückling", "kämpft", "drohende", "Eingeknickt", so schreibt niemand, der willens ist, die eigene Fehlbarkeit als Option einzukalkulieren. So schreiben Menschen, die auf jeden Fall recht haben wollen, die - Achtung, ein semantischer Kreis schließt sich - auf keinen ihre alten Überzeugungen loslassen oder zugunsten einer anderen Meinung von ihrem Standpunkt zurücktreten wollen. Es geht hier ums Gewinnen, nicht ums Lösen.
Kämpfen
Tichy steht - zumindest bei seinen öffentlichen Äußerungen - inmitten eines publizistischen Spektrums alter weißer Männer, das von Poschardt bis Jebsen reicht. Die Haltung, die er oben zum Ausdruck bringt (ich würde das mal den "Zwang zum Kampf" nennen), lässt keine Form konsensorientierter Auseinandersetzung zu. Sie wollen recht haben, immer. Nichts läge ihnen ferner, als ihre Standpunkt zu räumen und gewonnenes (geistiges wie materielles) Terrain preiszugeben. Jeder Tweet, jeder Artikel atmet Unversöhnlichkeit. Weitere Zitate spare ich mir. Dies hier ist keine empirische Untersuchung. Wer (besonders) auf Twitter bei den genannten personen mitliest, weiß / lernt schnell, was ich meine.
Nun will ich gar nicht so tun als wäre diese Haltung ein Alleinstellungsmerkmal alter weißer Männer. Auch Luise Neubauer oder Marina Weisband zeichnet eine ähnliche Unversöhnlichkeit aus. Beide nerven mich persönlich mit schöner Regelmäßigkeit.
Zurücktreten
Aber, und das ist für mich der entscheidende Unterschied und die Kernaussage dieses Posts, ihnen gestehe ich ein wesentlich größeres Maß an Unversöhnlichkeit zu als meiner Generation. Zum einen ist es ihre Zukunft, um die wir hier gerade pokern. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Poschardt, Tichy, Jebsen und ich tot sind, bevor das Schlimmste eintritt. Und zum anderen sollten halbwegs intelligente Boomer verdammt noch mal gelernt haben, dass man im richtigen Moment zurücktreten muss, sich zurücknehmen, den Platz frei machen.
Alte Menschen sollen unterstützen, nicht beharren. Wenn unsere Lebenserfahrung überhaupt einen Wert hat, dann dadurch, dass wir wissen, wie der Hase läuft; dass wir wissen, dass Maximalforderungen eher schaden als nutzen; dass Gutes nur aus Kompromissen und Versöhnlichkeit entsteht. Diese Anerkenntnis der grundsätzlichen Fehlbarkeit wäre ein Zeichen von Reife und als Beitrag zu den zahlreichen sozialen Diskussionen überaus großem Wert. Wir könnten vermitteln, erklären, versöhnen statt zu spalten. Wir könnten und sollten eine Mentorenrolle einnehmen, statt als Greisen-Armee längst obsolete Standpunkte zu verteidigen. Und falls das zu schmerzhaften Veränderungen führt, die uns kosten, einschränken, verändern - dann ist das eben so. Wir hatten unsere Party, wir sollten beim Aufräumen helfen. Anders gesagt: Wenn hier jemand zurücktreten muss, sind das wir.
P.S. Liebe Generation Y, Z, liebe Feministinnen, ja, man kann diesen Post auch als dreckspaternalistisches Mansplaining lesen. Aber erstens seid ihr hier nicht die Zielgruppe. Zweitens werdet Ihr auch älter und dann versohlen Euch die Generationen Alpha und Omega den Hintern. Und drittens: who the fuck cares. Es ist noch nicht Zeit ab-, nur Zeit zurückzutreten 😎.