Nicht weinen
In der 10. Klasse, also mit ungefähr 16 Jahren und einer gedanklich nicht unbedingt platonischen Leidenschaft für Kim Wilde und eine zumindest optisch sehr ähnliche Mitschülerin, fuhr ich auf meine erste größere Klassenfahrt, nach England. Heute macht man das anscheinend schon eher (meine Tochter war 12), unser Erfahrungshorizont endete jedoch bis weit in die Pubertät hinein an den Hängen des Sauerlandes, wenn man von den steinigen Stränden Kroatiens absieht, dem Mallorca und 11. Bundesland meiner Zeit oder zumindest meiner Familie,
Dementsprechend aufgeregt waren wir und vor allem ich. Ich war ein eher ängstlicher Teenager, sehr, sehr neugierig, aber weit davon entfernt mit jener Selbständigkeit und Weltläufigkeit ausgestattet zu sein, die heute Usus zu sein scheint, zumindest wenn man den Insta-Kanälen mancher Teenies glauben schenkt (was mir ehrlich gesagt manchmal schwer fällt, aber das ist ein anderes Thema.)
Wir fuhren mit dem Bus, nahmen die Fähre, fuhren wieder mit dem Bus bis Brighton und wurden schließlich einzeln auf Familien verteilt. Ich erinnere mich an ein kleines graues Haus, den faden Geruch von Porridge am Morgen und an drei wesentliche weitere Ereignisse.
Glücksspiel am Meer!
Da ist zum einen meine erste Begegnung mit Glücksspiel, auf dem Brighton Palace Pier. ich versenkte dort ungefähr 20 in diverse Pence-Stücke gewechselte Pfund (für mich damals eine enorme Summe) in bunte Spielautomaten, ohne ein einziges Mal zu gewinnen. Die gleiche Erfahrung machte ich dann ca 20 Jahre später bei meiner ersten Hochzeitsreise nach Las Vegas, wo es dann aber geschätzte 2000 Dollar waren, die ich an einem Abend beim BlackJack verspielte, statt meine erste Ehe in einem Whirlpool des Luxor zu vollziehen. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal in aller Form bei meiner ersten Frau entschuldigen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich damals eher wütend als schuldbewusst ins Zimmer kam und dass dieses „Sorry“ deshalb noch aussteht.
Aber immerhin: ich habe seitdem kein Casino mehr betreten. Man wird also aus Schaden wirklich klug.
Sex auf Drogen!
Ebenfalls in England hatte ich meine erste Begegnung mit nicht-alkoholischen Drogen. Genauer gesagt mit etwas Gras, das besagte Kim-Wilde-ähnliche Freundin unter den Augen der Lehrer über die damals noch und heute wieder stark kontrollierte Grenze geschmuggelt hatte. Wir rauchten einen Teil des Zeugs in London, während wir auf einem Abluftgitter der Underground saßen und ich erinnere mich besonders an geschlossene Augen, Lippen auf meinen und das Gefühl fliegen zu können, zu schweben - zumindest jedes Mal, wenn eine Bahn unter uns durchfuhr.
Alkohol neben Nazis!
Und dann gibt es da noch die dritte Erinnerung, den eigentlichen Anlass für diesen Blogpost. In der geht es schon wieder um eine Droge, aber dieses Mal um Alkohol, besser gesagt: um englisches Bier. Und um Hitler.
Ich weiß bis heute nicht, ob ich mit 16 Jahren dort hindurfte, wo ich hinging. Ich machte mir auch keine Gedanken darum, denn im Sauerland beginnt man mit zwölf Jahren Faxe-Dosen oder Warsteiner an der Tanke oder in der SGV-Hütte zu trinken. Ich hatte mich einfach abends von meiner Gastfamilie abgesetzt und unter dem Vorwand eines Pier-Spaziergangs auf die Suche nach einem Pub gemacht, um dort die berühmte Sperrstunde und eine echte Last-Order-Glocke zu erleben und dabei ein Bierchen ohne Schaum zu trinken. Auf der Suche nach dem richtigen Ort landete ich schließlich in einer dunklen Seitenstraße, die nur aus Mülltonnen und dem Eingang zu einer Kneipe mit schmierigen Fernstern bestand. In die großen, glänzenden Pubs traute ich mich nämlich nicht, weil ich Angst hatte, dort auf unsere Lehrer zu treffen. In diese dunkle Gasse eigentlich auch nicht, weil ich ängstlich war, aber es war schon fast halb zehn (nehme ich an) und ich nahm mein Herz in beide Hände und betrat mit hohem Puls diese Lokalität, die mein Großvater ganz sicher als „Halunkenbude“ bezeichnet hätte.
Die Kneipe war innen schäbig-dunkel und voll bleich-weißer Männer mit geschorenen oder gar keinen Haaren, die tranken, Billard spielten, quatschten, sich stritten und mehr tranken. Also abgesehen von der Optik der Anwesenden eigentlich nicht viel anders als zu Hause. Dachte ich und kämpfte mich bis zur Bar vor, bestellte ein „Peint“ und die Story, um die es mir geht, nahm ihren Lauf. Denn da ich aufgrund meines Klosterschul-Akzents (Kloster Maria Königin, Altenhundem, Deutschland) sofort als Deutscher erkannt wurde, gab es plötzlich einen überraschenden Tumult im Raum und sehr viele der Anwesenden stellten ihre Streitigkeiten ein, umringten mich und überboten sich darin, mir das erste, das zweite und alle weiteren Biere auszugeben. Ich brauchte einen Moment um zu begreifen, was geschah, warum ich plötzlich der Star in diesem Raum war. Bis mir irgendwann klar wurde, dass es sich bei diesem Pub um das informelle, lokale Hauptquartier der 1982 neu gegründeten neofaschistischen British National Party handelte, in die erst seit 2010 nicht-weiße Mitglieder aufgenommen werden müssen, aber wahrscheinlich nicht werden, weil die Partei sich als „Zufluchtsstätte für Menschen, die vom multirassischen Experiment traumatisiert sind“ betrachtet. (https://de.m.wikipedia.org/wiki/British_National_Party, 1.8.2021) Man gratulierte mir dort nacheinander zur Ermordung von Anne Frank, der Erfindung der Vergeltungswaffe 1, Auschwitz und der Annexion diverser europäischer Länder. Mehrfach wünschte man mir auch viel Erfolg für den kommenden 3. Weltkrieg, untermalt von einigen einigen mit schwerer Zunge gelallten und schwankend grüßenden „Hoil Hitler“. Ich war deutsch, sie waren Nazis und so war die Welt für sie in Ordnung. Für sie waren wir Herrenmenschen unter uns.
Scham und Schweigen!
Ich habe damals einige Monate gebraucht, um mit diesem Abend abzuschließen, um den faden Geschmack und vor allem das schlechte Gewissen des Abends zu verarbeiten. Denn habe ich mich gewehrt? Bin ich aufgestanden und habe einen flammenden, antifaschistischen Vortrag gehalten? Nein, bin ich nicht und habe ich nicht. Dabei komme ich aus einer Gewerkschafterfamilie, bin wie die meisten meiner Generation umfassend über die Gräuel und die Unmenschlichkeit des Nazi-Regimes aufgeklärt worden und habe die Erbsünde meines Landes gefühlt und schuldbewusst akzeptiert. Ich hätte jeden Grund gehabt, zumindest sofort zu gehen. Und die einzige Ausrede, die ich bis heute dafür habe, ist, dass nichts, aber auch gar nichts, mich auf dieses Szenario vorbereitet hatte: gelobt zu werden für etwas, dessen ich mich schämte und schäme und gefeiert zu werden für das mörderischste und unmenschlichste Regime, das dieser Planet bisher gesehen hat. Ich war wie unter Schock. Nicht ein Wort habe ich gesagt, keinen Widerstand habe ich geleistet und das Bier habe ich auch noch getrunken, bis es endlich vorbei war und der Pub schloss. Ich habe lange niemandem davon erzählt, auf der restlichen Klassenfahrt nicht und auch später nicht. Weil ich mich schämte. Für das, was ich war, vor allem aber für das, was ich nicht getan hatte: mich von diesem Scheiß zu distanzieren, als ich es theoretisch gekonnt und #verdammtnochmal gesollt hätte. Dass ich mich nicht gewehrt habe gegen diese völlig verquere Form positiver Diskriminierung, die das einzige Mal in meinem Leben darstellt, dass man sich mir gegenüber anders als gewünscht oder zumindest erwartet „verhalten“ hat, auf Basis einer Eigenschaft, die ich nicht ändern konnte oder kann: man hat mich gefeiert und bevorzugt für meine Herkunft als deutscher, weißer Mann.
Freiheit statt Diskriminierung
Dem einen oder anderen dürfte spätestens jetzt klar sein, warum ich diese Anekdote in meinem Blog erzähle und worauf ich hinaus will: ja, ich, der alternde weiße Mann, habe einmal, vor Jahrzehnten, aufgrund meiner Herkunft eine unerwünschte Erfahrung gemacht: mir wurde Alkohol geschenkt. Eine unveränderliche Eigenschaft meines Wesens (mein Deutschsein) hat Menschen dazu gebracht, mich anders zu behandeln als andere (man hat mich hochleben zu lassen) und ich habe mich dabei schlecht dabei gefühlt. Aber eben nicht, weil ich war, was ich war, und deshalb schlecht behandelt wurde, sondern weil ich nicht sein wollte, was sie in mir sahen. Soll heißen: die einzige Form der Diskrimierung, verstanden als „Herabwürdigung ... nach Maßgabe bestimmter Wertvorstellungen“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Diskriminierung, 1.8.2021), die ich bis heute erlebt habe, war eine umgekehrte, eine negativ gefühlte, aber positiv gemeinte. Man hat mich gelobt, nicht gedisst. Niemand hat zu mir „Schlampe“ gesagt, und mir gedroht, mich zu vergewaltigen; mir gegenüber das N-Wort benutzt, und meine Menschenähnlichkeit in Frage gestellt; mich Jude genannt und bedauert, dass es Hitler nicht mehr gibt; mich als schwul bezeichnet und seinen Kumpels geraten, sich in der Dusche bloß nicht nach der Seife zu bücken. Ich wurde für das, was ich bin, noch im Negativen gelobt, nicht beleidigt. Man hat mir ein paar Gläser schlechtes Bier ausgegeben und ich habe mich eine Zeitlang scheiße gefühlt deswegen - aber eben nicht, weil man mich meiner Herkunft wegen vor die Tür gesetzt hat, sondern weil ich nicht genügend Zivilcourage für eine echte Widerrede besessen habe. Sogar in dieser Situation lag eigentlich der Ausgang der Situation, lag mein Selbstwertgefühl noch in meiner Hand. Eine Freiheit, die die wenigsten Frauen, PoCs, Juden oder queeren Menschen in Deutschland jemals hatten und haben, wenn sie auf ihre unveränderlichen Eigenschaften reduziert werden.
Fettaugen auf Suppe!
Und genau wegen dieser Erfahrung halte ich Begriffe wie "Männerdiskriminierung", die Tatsache, dass man über Deutsche "#Kartoffel"-Witze auf Twitter macht und das von der AfD geforderte Stipendium zur "Erforschung von Männerdiskiminierung und Misandrie" für einen Witz und eine schlechte Benachteiligungs-Parodie. Mein Lebenslauf ist sicher nicht repräsentativ. Vielleicht habe ich auch einfach Glück gehabt, dass ich bisher im Ausland niemals abwertend als "Nazi" bezeichnet wurde. Vielleicht war ich auch nicht sensibel genug, um den Griff an meinen Hintern im Karneval als sexistisch zu empfinden. Aber ehrlich gesagt kenne ich auch sonst niemanden aus meinen Alters-, Geschlechts-, sexuellen Orientierungs- und Einkommens-Kohorten, der sich ernsthaft und mehrfach bei mir über abwertende, diskriminierende Erfahrungen aufgrund seines Deutsch-, Mann- oder Hetero-Seins beschwert hätte. Es mag sie geben, wer weiß, und es wird sicher nicht leichter für uns. Wir müssen Plätze an Frauen abgeben, nicht nur bei den Grünen im Saarland. Unsere Unternehmen müssen diverser werden und das heisst, dass wir Jobs und Posten, die wir schon sicher glaubten, Macht, an die wir uns gewöhnt haben, seltener innehaben werden als bisher, bis hin zur, Aaaachtung, repräsentativen Verteilung. Aber das geschieht am Ende nicht nur meiner sondern einer Geschichte voller Privilegien, die uns ein Leben voller Möglichkeiten zur ungestörten Selbstentfaltung auf Kosten vieler anderer verschafft hat. Wir waren jahrhunderte- wenn nicht jahrtausendelang die Fettaugen auf der Suppe, die wir Gesellschaft nennen (*) und haben für meinen Geschmack kein Recht jetzt zu jammern, wenn darin nun kräftig herumgerührt wird. Hört auf zu jammern, liebe Mitalternden. Ihr seid peinlich.
(*) Das Zitat stammt aus irgendeinem Film. Aber ich habe keine Ahnung mehr, woher. Es passt zu gut, um es nicht zu nutzen, sorry.