September 2, 2021

Spät im Sommer

Heute war ein warmer Spätsommertag. Einer von jenen, die man nicht mehr erwartet. Einer von denen, die mich an meine Kindheit erinnern. Und an meine Zukunft.

Spät im Sommer

Für uns Kinder waren Tage wie dieser die letzten Tage der Freiheit. Der Freiheit, draußen zu sein, wo immer wir wollten, so lange wir wollten. Der Freiheit, unsere Pflichten zu vergessen. Der Freiheit, die Regeln selber zu schreiben. Es waren Tage, die kühl begannen, dann plötzlich  warm wurden, heiß fast. Meine Mutter oder meine Oma zogen mich morgens fast immer zu dick an, so dass ich den Pullover irgendwann während des Spiels ins Gras legte oder an einen Baum hängte, ihn dort vergaß und  abends, kaum zu Hause, noch einmal aufs Fahrrad musste, um ihn zu holen, bevor der Tau ihn völlig durchnässte. Solche Tage waren in einer Erinnerung oft die letzten Tage der Sommerferien, in warmen Jahren der Herbstferien. Und in der Euphorie dieser freien Tage  glaubte ich, wollte ich glauben, dass sie nie enden würden, dass es ewig Sommer bliebe, dass wir ewig frei wären. Aber natürlich wusste ich auch als Kind schon um das nahende Ende, wusste, dass der Herbst kommen würde, der Winter, dass die langen Schatten der Sonne vom  frühen Dunkel abgelöst werden würden. Aber ich schert mich nicht darum. Ich spielte und lebte in einem ewigen Sommer, bis er vorbei war. Von heute. Auf morgen.

Genauso empfinde ich es jetzt, das Leben in meinen 50ern. Es ist kälter geworden. Die Leidenschaften werden schwächer, die Ermüdung kommt früher. Die Schatten meiner Gedanken werden länger und weisen nach vorne, irgendwo ins Dunkle. Aber zugleich spüre ich noch eine Wärme, eine Hitze, einen Drang, so eine Art letzten Schwung, der mich dazu bringt, noch einmal ganz neue Pläne zu machen, befeuert von der Erinnerung an das, was immer möglich gewesen ist. Ich folge diesen Plänen jetzt, als gäbe es keinen Herbst, keinen Winter, als würde ich ewig leben, ewig der Mensch sein, der Pläne nicht nur machen, sondern sie auch verwirklichen kann. Und lausche dem Wind in den Bäumen, der mich tröstet und mir zugleich vom Ende erzählt.