Juni 26, 2021

Ihr seid so verdammt unmenschlich.

Ein Text darüber, was wir tun müssen, damit unsere Kinder nicht auf unsere Gräber spucken.

Ihr seid so verdammt unmenschlich.

An meiner Generation kotzt mich besonders an, wie unmenschlich viele von uns sind. Uns scheint die Fähigkeit zur Empathie völlig abhanden gekommen zu sein. Mit Empathie meine ich in diesem Fall weniger das Mitgefühl, das war und ist immer mal wieder vorhanden und spürbar. Ich meine vielmehr die Fähigkeit zur „kognitiven Empathie“ oder „Perspektivenübernahme“. Laut Wikipedia ist dies eine Eigenschaft, die uns von der Tierwelt unterscheidet - und wer dazu nicht in der Lage ist oder sich dem Perspektivwechsel verschließt, beraubt sich damit eines wesentlichen Attributes seines Menschseins und wird erweist sich damit eben zu einem gewissen Teil als „unmenschlich“.

Perspektivwechsel

Vieles von dem, was wir aktuell als aufgeheiztes soziales Klima erleben, was seine hässliche Fratze mindestens einmal in jedem längeren Twitter-Thread zeigt, hat seinen Ursprung darin. So würden z.B. viele der aktuellen Diskussionen, die wir rund um die Themen Sexismus und Rassismus führen, sicher nicht zur Gänze aufhören, aber mit wesentlich weniger Schärfe, Verbitterung und Hass aufgeladen sein, wenn wir ernsthaft versuchten, die Perspektive der „anderen Seite“ einzunehmen. Welcher Mann, der sich Mühe gibt, das unangenehme, erniedrigende Gefühl, das z.B. „catcalling“ auslöst, nachzuvollziehen, kann dieses Verhalten ernsthaft weiter als Petitesse abtun. Es sollte ihm auch möglich sein, die Angst einer einzelnen Frau vor Gruppen betrunkener männlicher Jugendlicher nachts in der Stadt, zu verstehen. Und auch Menschen wie ich, die ihr ganze Leben lang noch nicht ein einziges Mal von der Polizei anlasslos kontrolliert wurden (sic!), können sich zumindest Mühe geben, die Perspektive desjenigen einzunehmen, der durch konstantes „racial profiling“ gedemütigt wird.

Um nicht in irgendwelche identitätspolitischen Diskussionen zu kommen, bin ich gerne bereit zuzugeben, dass Menschen wie ich das nicht „fühlen“ können. Wir „sind“ das nicht, wir sind „die“ nicht. Aber „verstehen“ und „nachfühlen“ und deshalb angemessen reagieren, das ist jedem Menschen möglich - und ist eine bessere Grundlage für eine konsensorientierte Diskussion über Verhaltensänderungen oder Ge- und Verbote als die Übertragung der eigenen Privilegiertheit in ein „nun hab Dich mal nicht so“.

Desensibilisierung durch Privilegien

Diese Privilegiertheit scheint mir übrigens auch der Grund für die so schwach ausgeprägte Fähigkeit zur „Perspektivübernahme“ zu sein. Wer sein Leben lang im Glashaus oder Elfenbeinturm oder in Versailles sitzt, der glaubt auch wirklich an die Aussage „… dann sollen sie eben Kuchen essen“. Ich nenne das „Desensibilisierung durch Privilegien“. Wer wie ich, die meiste Zeit seines Lebens als Cis-Mann in einer weißen Mehrheitsgesellschaft gelebt hat, muss sich anstrengen, das Neue und Andere und den Wandel zu verstehen.

Aber genau das ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, wenn die nächsten Generationen nicht auf unsere Gräber spucken sollen.

Dazu braucht es übrigens im Zweifelsfall nicht mal ernsthaften Kontakt mit den weniger Privilegierten. Ich weiß, dass es meiner Generation schwer fällt, sich für ein echtes Gespräch zu öffnen. Aber wenn das so ist, bleibt Euch immer noch Eure Intelligenz. Ihr könnt Bücher lesen, Podcasts hören, auf Social Media lesen - und so versuchen zu verstehen. Tut nicht weh und entspricht doch unserem Anspruch, Zentrum des Wissens zu sein, oder?

(1) Für mich persönlich war z.B. Sophie Passmanns „Alter Weißer Mann“ ein echter Augenöffner im Hinblick auf die Rolle und Anliegen des Feminismus.