Zentrum des Wissens
Ein Text darüber, warum ich XING nicht mag, die Kunst des Zigarettenklauens und warum wir die Welt nur retten können, wenn wir zuhören und lernen.
Ich bin als Geschäftsführer geboren.
Knallereinstieg, oder?
Aber natürlich nicht wirklich korrekt. Eher ein knackiger, wahrer Kern mit ein paar vernachlässigenswerten Fakten drumrum. Geboren bin ich wie alle als nackter, schleimiger Homo sapiens. Und in der Schule habe ich auch keine Geschäfte geführt. Gut, ich habe eine Zeit lang mit Freunden Zigarettenautomaten ausgeräumt und die Beute auf dem Raucherpausenhof in der Schule verkauft, was damals viel leichter war als heute. Man musste nur die ersten 2 Mark zahlen, das Schubfach dieser alten Automaten halb öffnen und konnte die Päckchen dann ziemlich leicht nacheinander heraus zerren. Das war natürlich ein Geschäft, das ich geführt habe, sogar ein gutes, nur kein legales und wir hatten auch keine echte Gesellschaftsform, es sei denn "Gang", aka "Bande", zählt als solche. Aber schon an der Uni hatte ich mein eigenes Gewerbe, danach habe ich meine erste Agentur gegründet und dann mit Gründen und Geschäfteführen in Kommunikationsagenturen bis heute nicht mehr aufgehört. Ich bin niemals sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen, war immer der Erste, gerne inter pares, aber immer irgendwie oben oder vorne. Oft weil vor mir niemand da war, wie das so ist bei Gründern, aber de facto immer Chef und Geschäftsführer, selbst wenn ich manchmal nur mich geführt habe.
Unternehmer, nein danke!
Warum das in meinem Leben so gekommen ist? Schwer zu sagen. Ich halte nicht viel von Unternehmertum. Es gruselt mich vor Unternehmerstammtischen und Unternehmerfrühstücken, vor allem, was XING so anbietet. Ich habe Iberoromanische Philologie studiert und keinen MBA gemacht. Ich wähle keinesfalls FDP. Und bin ganz sicher nicht der Meinung, dass Unternehmer eine Sonderbehandlung verdienen, nur weil sie Arbeitsplätze schaffen. Ich schaffe keine Arbeitsplätze aus altruistischen Motiven, ich brauche einfach Menschen, um etwas zu schaffen. Und dafür bekommen die Geld. Ist ein fairer Deal, finde ich, und keine Charity.
Ich denke, ich tue das, was ich tue, weitestgehend aus zwei einfachen, sehr persönlichen und egoistischen Motiven.
Zum einen bin ich wahnsinnig ungeduldig und will Ideen schnell umsetzen. Da schadet es nur, wenn man andere fragen muss, ob man etwas tun darf. Das verlangsamt den Prozess und nimmt der Sache den Schwung und den Spaß.
Und zum anderen glaube ich gerne - und damit sind wir mitten im eigentlichen Thema dieses Posts - dass ich niemanden brauche, weil ich "es" besser kann als die meisten anderen. "Es" bezieht sich dabei auf meine Kerndisziplin "Was mit Medien". Ich habe einen Instinkt für Sprache, ein wirklich sehr, sehr schnelles Auffassungsvermögen und ich kann Dinge gut auf den Punkt bringen. Das reicht eigentlich schon, um die meisten Probleme in meinem Job zu lösen. Der Rest ist Ornament. Und Erfahrung. Und genau die steht mir jetzt im Weg.
Weil ich verlernt habe zuzuhören.
Oben hört man schlecht
Denn wenn man fast ein Vierteljahrhundert oben gestanden und die meisten Probleme durch schnelles Denken, eine gewisse Ruchlosigkeit (in mir steckt immer noch ein Gutteil Zigarettendieb) und eine Menge Glück gelöst hat, hält man sich irgendwann für unverwundbar und die Krone der Schöpfung. Man fürchtet eine Menge Dinge - ich war schon mehrmals fast pleite und diese Zeiten hinterlassen ihre Spuren - aber man fürchtet ganz sicher nicht den Irrtum. Man hat ja überlebt. Also ist man gut, besser, am besten. Und dieses Bewusstsein ist das schlimmste, was einem passieren kann. Und es zeichnet leider zuvorderst mein Geschlecht, meine ganze verdammte Generation, die alten weißen Männer, aus.
Ich weiß das, weil ich berufsmäßig hauptsächlich mit eben diesen zu tun habe: die meisten meiner Kunden und Partner sind selber Unternehmer oder ältere "Leiter von irgendwas" (da gibts kaum was zu gendern, 90% sind Männer), stehen also auch an irgendeiner Spitze und wir hören uns selten zu. Natürlich reden wir miteinander, aber wir achten nicht wirklich auf das, was wir sagen. In unseren Gesprächen tippen wir nebenher Anweisungen und denken uns unseren Teil. Wir glauben immer, dass man uns kaum was Neues erzählen kann. Denn haben wir nicht schon alles gesehen und erlebt? Können wir nicht alles auf Basis unserer Erfahrungen klären, entscheiden und veranlassen?
- TikTok? Ist nur so eine Art Fax auf dem getanzt wird.
- Merkel? Nur so eine Art Kohl mit Brüsten.
- Klimawandel? "Im Jahre 1482 kam in Germanien so ein schrecklicher Landsterb auf die vorgehende Hungersnot, dass die Leute in Unsinnigkeit dahinfielen wie das Vieh ..." (https://www.mittelalter-lexikon.de/wiki/Missernten, 30.6.2021)
Kurz gesagt: unsere eigene Geschichte, unsere Macht und unser Alter haben uns unaufmerksam gemacht, träge und unsensibel. (Für alle Kunden, die das hier lesen: Sie meine ich natürlich nicht. Sie gehören zu den Guten.)
Wir sind schuld
Und (auch) deshalb ist die Welt in dem Zustand, in dem sie ist. Dieser Planet wird beherrscht von einer Kaste von Menschen, die (noch) alles entscheiden dürfen, obwohl sie verlernt haben zuzuhören und die sich, weil sie nichts mehr aufnehmen, für das Zentrum des Wissens halten. Wer sich nicht vergleicht und in Frage stellt, der kennt keine Selbstzweifel und jede offene Kritik ist im besten Falle dumm, im schlimmsten Majestätsbeleidigung.
Twitter ist voll von uns, den Besserwissern, den Mansplainern, den geistigen Bundestrainern und psychischen Hornhautträgern. Und weil wir immer noch die Macht haben, machen wir natürlich alles gut. Wir zitieren uns nur noch selber und erkennen die Gefahr dieser eingebauten Selbstreferentialität nicht einmal.
Denn die Welt hat sich doch längst so grundlegend verändert, dass unser Erfahrungswissen vielleicht nicht komplett nutzlos ist. Geschichte ist immer wichtig, wenn ich die Gegenwart verstehen will. Aber es gibt so viel Neues, so viele Paradigmenwechsel, soziale, technologische und psychologische Disruptionen, dass wir längst kurz vor oder nach einem Quantensprung sind, der 90% dessen, was wir zu wissen glauben, entwertet. Unsere Rezepte, die uns so weit gebracht haben, funktionieren nicht mehr. Sie schaden mehr als sie nutzen. Wir haben keine Zeit mehr für ein "Weiter so". Und deshalb gibt es nur zwei Wege, wie wir uns Respekt verdienen und zur Rettung der Welt beitragen wollen, eine für jedes Temperament.
Wir können das besser.
Die Ruhigen, die Satten, die Müden, sie sollten den Stab einfach weiter geben an die nächste Generation. Ihr wart toll, ihr habt Großes geleistet, aber macht jetzt nicht den Löw.
Die Unruhigen aber, die Nervösen, die, die sich zu jung für die AIDA fühlen, sollten sich eine Sokrates-Anthologie kaufen, akzeptieren, dass sie vielleicht nicht nichts, aber von den neuen Dingen viel zu wenig wissen, aufhören zu urteilen und statt dessen lernen zuzuhören. Zuhören und lernen, lernen und zuhören muss unsere (ja, ich fühle mich zu jung für die ewige Kreuzfahrt) Devise sein.
Natürlich sind wir geil. Aber wir wären noch viel geiler, wenn wir endlich aufhören würden, das wirklich zu glauben.
Zuhören und lernen, denkt dran. Immer.
Ich hab uns da mal was vorbereitet.